N’ring 24: Vierhundertvierzig Leuchtdioden

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Das Ravenol-Riesenrad im Betrieb | © 1VIER.COM

Wie viele Leuchtdioden flimmern eigentlich auf der Windschutzscheibe der Gesamtsieganwärter? Der Livestream-Zuschauer wird diese Zahl vermutlich zeitlebens nicht mehr vergessen. Aber: Die Gesamtberichterstattung zum 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring überzeugte fraglos durch ihr zeitgemäßes Konzept.

Niemand wagt es ernstlich in Zweifel zu ziehen: Eine eintägige, unterbrechungslose Berichterstattung zehrt an den Kräften. Es bleibt nicht ein Moment zum Atemschöpfen. Nein, im Gegenteil: Es obwaltet fortwährende Atemlosigkeit. Kein Ereignis bleibt unkommentiert – einerlei, ob relevant oder belanglos. Die Kommentierung des Livestreams zum 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring erheischt fraglos Stehvermögen, keine kleingläubige Verschwiegenheit.

Ebben die Geschehnisse jedoch ab, weicht die Aufbereitung von Nachrichten der inhaltsberaubten Dampfplauderei. Denn der Redefluss darf unter keinen Umständen versiegen. Es folgt für den Zuschauer eine strapaziöse Tour de Force einer gebetsmühlenartigen Wiederholung derselben Wortmacherei, um entstehende Lücken zu schließen. Pure Desinformation bis zum Weißbluten. Wem das Vergnügen, den Livestream zu verfolgen, nicht zuteilwurde, der sei nun ins Bild gesetzt.

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Das Drängendste zuerst: ein Novum. Die schnellsten Dreißig waren mit einem blau flimmernden Blinkdingens ausgestattet. Daher nötigt sich eine Frage auf. Wie viele Leuchtdioden hat es eigentlich? Einhundert? Zweihundert? Gar dreihundert? Oder vierhundert? Nein! 440 – ausgeschrieben vierhundertvierzig – Leuchtdioden, um vorausfahrenden Piloten im Überrundungsverkehr zu signalisieren, es eilt ein Gesamtsiegaspirant heran. Wahnsinn!

Viel wichtiger jedoch ist die Frage, wer die Darbietung eigentlich finanziert. Fand der Initiator gelegentlich Erwähnung? War es eventuell ein Mobilfunknetzbetreiber? Die Telekom? O2? E-Plus? Letzter Versuch. Richtig, wir sahen den Vodafone-Gigaspeed-Livestream. Manche schlugen im YouTube-Chat daher vor, bei jeder Nennung einen Schnaps zu trinken. Eine Durchführung dieser Idee endete höchstwahrscheinlich komatös, möglicherweise sogar letal.

Zeitgemäßes Konzept

Nichtsdestoweniger muss man unbeschadet voraufgehender Mokerie Vodafone bescheinigen, vorbildliche Arbeit zu leisten. Die Mobilfunkgesellschaft hat nicht nur eine solide Direktübertragung ins Werk gesetzt, sondern auch den Zeitgeist der Digitalisierung vergegenwärtigt. Beinahe zehn Millionen Aufrufe des Livestreams sind der Beleg. Selbst zu nächtlicher Stunde bewegte sich die Anzahl der Schauer im mittleren fünfstelligen Bereich.

Wenngleich dies in anderen Ländern eigentlich der Standard ist, hat Vodafone sowohl das Prinzip zeitgemäßer Vermarktung verstanden als auch die Möglichkeiten des Web 2.0 genutzt. Geradezu unübersehbar flackerte am Samstag auf der YouTube-Startseite ein gigantischer Werbebanner, welcher für den Livestream – Verzeihung, den Vodafone-Gigaspeed-Livestream – zum diesjährigen 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring warb.

Auch auf anderen Internetseiten war es gleichsam unvermeidbar, dem Vodafone-Gigaspeed-Livestream zu entrinnen. Das Originelle: Der Banner enthielt bereits bewegte Bilder der Direktübertragung, wodurch der potenzielle Zuschauer unmittelbar in den Sog der Vorgänge hineinglitt. Im Livestream selbst konnte man nicht nur mit anderen Nutzern interagieren, sondern auch mit der Vodafone-Gigaspeed-Livestream-Redaktion selbst.

Ferner erweiterten die Vodafone-Gigaspeed-Livestream-Macher die Berichterstattung in ihrem YouTube-Kanal um zusätzliche Beiträge in Zusammenarbeit mit reichweitenträchtigen Webvideoproduzenten, denen es zwar an jeglichen Fachkenntnissen ermangelte, welche aber Aufmerksamkeit für die Veranstaltung generierten. Auf diese Weise funktioniert Kundenakquise im digitalen Zeitalter. Und auf diese Weise begeistert man für eine Randsportart, die peu à peu ihre Anziehungskraft einbüßt.

Übermaß an Emotionen

Der Vodafone-Gigaspeed-Livestream war beispielgebend. Zum Vergleich: Der ACO sitzt nach wie vor dem naiven Irrglauben auf, die Reputation der 24 Stunden von Le Mans reiche hin, um jedweder Vermarktung zu entbehren. Stattdessen verbarrikadiert sich der Automobilklub hinter einer Bezahlbarriere – in der Annahme, jedermann wolle sich ohnehin an einem Scheinduell zwischen einer bevorzugten Toyota-Übermacht und chancenlosen LMP1-Privatiers mit Parkkralle und Lenkradsperre laben.

Dennoch: Phonstark ins Mikrofon zu brüllen kaschiert beileibe keine Inhaltslosigkeit. Und es gebietet die Höflichkeit, Interviewpartner ausreden zu lassen, anstatt marktschreierisch ein Vorkommnis auf den Monitoren zu kommentieren. Überdies wäre eine nottuende journalistische Distanz der Berichterstattung zuträglich. Mitunter war der Qualm der Selbstbeweihräucherung dichter als die Nebelschwaden am Sonntagmittag.

Freilich kann man seine innige Liebe zur „geilsten Veranstaltung der Welt“ auf der „geilsten Rennstrecke der Welt“ zum Ausdruck bringen. Die permanente Wiederholung rührt jedoch nicht nur an der Glaubwürdigkeit der Aussage, sondern es drängt sich auch der Eindruck auf, in Indianapolis, Le Mans und Monte Carlo – ganz zu schweigen von Daytona, Sebring, Bathurst und Macao – seien nur Amateure, Pfuscher und Dilettanten unterwegs.

Eine unaufgeregte, nüchterne Darstellung ohne gedankenmörderisches Geschrei würde den Vodafone-Gigaspeed-Livestream nochmals aufwerten. Während andere Institutionen des Motorsports nicht einmal imstande sind, sich in sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Instagram zu präsentieren, trifft der Vodafone-Gigaspeed-Livestream den Nerv der Zeit. Das ist durchaus erfreulich. Und übrigens: Eine Fahrt mit dem Ravenol-Riesenrad kostete vier Euro.